Sonntag, 12. Juli 2015

André Franell ⇒ Vermieter


Auch Vermieter haben Rechte



Zwangsräumung Lausitzer Straße - ein Bericht aus der Berliner Zeitung vom 21.02.2013

Die Zwangsräumung der Familie Gülbol in Kreuzberg wird ideologisch instrumentalisiert. Zur Debatte über die Verdrängung Armer sind alle möglichen Fälle geeignet. Der Fall Gülbol jedoch nicht.

An diesem Donnerstag will die Linkspartei im Abgeordnetenhaus die Zwangsräumung einer Familie in Kreuzberg thematisieren. Die am 14. Februar von einer Gerichtsvollzieherin aus der Wohnung gesetzte Familie hat bundesweite Bekanntheit erreicht. Der 41-jährige Ali Gülbol aus der Lausitzer Straße wurde zur Symbolfigur. Er steht für den Kampf Gut gegen Böse, Mieter gegen Vermieter. Deshalb rief die linke Szene seit Wochen zur Blockade Kreuzbergs auf. Die Grünen solidarisierten sich mit Gülbol, die Piraten und der Fußballklub Türkiyemspor ebenfalls.

Nun sind steigende Mieten und die Verdrängung Ärmerer zu Recht ein großes Thema. Es zu ignorieren, wäre ignorant und kalt. Und man würde negieren, dass Berlin auch deshalb bunt, brodelnd und kreativ ist, weil die Mieten relativ günstig sind. Der Fall Gülbol jedoch ist ideologisch derart aufgeladen, dass offenbar kein Fakt die vorgefassten Meinungen trüben kann. Es geht um eine Erhöhung der seit 15 Jahren unveränderten Nettokaltmiete von 469,36 auf 563,23 Euro, die Ali Gülbol 2007 für 126 Quadratmeter zahlen sollte. Inklusive Betriebskosten seien es rund 715 Euro, sagt Gülbol.

Nichts Schriftliches in der Hand

2006 hatte es einen Eigentümerwechsel gegeben. Der Neue – der in der Tat knallhart und bei vielen Mietern unbeliebt ist – wollte plötzlich 93,87 Euro mehr. Dabei hatte Gülbol nach seiner Darstellung mit dem Altbesitzer eine andere, eine mündliche Vereinbarung: Weil er die Wohnung selbst sanierte, habe er mit diesem abgesprochen, dass die Miete nicht steige. Darauf pochte Gülbol auch dann, als er von dem Neuen auf Zahlung verklagt wurde.

Nur: Der alte Vermieter konnte sich an Details solch einer Vereinbarung nicht erinnern. Gülbol hatte nichts Schriftliches und kann nichts beweisen. Auch die vagen Bezeugungen des Hauswarts, der seine Version bestätigen sollte, halfen nicht. Das Amtsgericht verurteilte Gülbol am 30. Juni 2008, der Erhöhung zuzustimmen. Es hielt sie für gerechtfertigt. Laut Mietspiegel lag die Nettokaltmiete zwischen 3,17 und 5,90 Euro pro Quadratmeter. Die erhöhte Miete lag bei 4,47 Euro, also um zwölf Prozent über dem Mittelwert der erlaubten Miet-spanne und war damit laut Gericht ortsüblich und angemessen. Gülbol zahlte die Erhöhung trotzdem nicht und ging in Berufung. Das Landgericht bestätigte am 16. September 2010 das Urteil und gab dem Vermieter in zweiter Instanz Recht.

Von jetzt an wäre Gülbol verpflichtet gewesen, die Erhöhung zu zahlen, woran das Gericht auch keinen Zweifel ließ. Laut Gesetz hätte er zwei Monate Zeit gehabt. Als er nach über drei Monaten die Differenz immer noch nicht beglich – als aus mehreren Jahren ein Rückstand von insgesamt 5.837,29 Euro aufgelaufen war und laut Gericht auch sonst keine Nachricht von Gülbol kam – da reichte es dem Vermieter. Er kündigte ihm am 19. Januar 2011 fristlos. Von einer kurzen Fristüberschreitung, die ein hartherziger Miethai eiskalt ausnutzte, kann also keine Rede sein. Eher von einer „nicht unerheblichen Pflichtverletzung“ durch den Mieter, um bei der Formulierung des Landgerichts zu bleiben. Gülbol sagte in Interviews, dass er nicht viel Geld habe. Laut Gericht bat er aber auch nicht um Ratenzahlung. Fünf Tage nach der Kündigung zahlte er plötzlich den Mietrückstand komplett. Aber da war die Kündigung rechtswirksam.

Alle Urteile, auch die zur folgenden Räumungsklage, stehen auf der Webseite des Kammergerichts. Dennoch wurde mit dem Thema Politik gemacht. Die Grünen erklärten, es sei unverständlich, wieso der Vermieter seine Kündigung nicht zurücknahm, „obwohl die Familie alle Mietrückstände längst bezahlt hat“. Halina Wawzyniak – immerhin Volljuristin und für die Linke im Bundestags-Rechtsausschuss – erklärte: „Dass die Räumung nur eine Woche vor der Revisionsverhandlung vor dem Bundesgerichtshof vollzogen wird, macht deutlich: Es geht hier auch um eine Machtdemonstration gegenüber all jenen, die nicht länger bereit sind, die Vertreibung von Menschen mit geringen Einkommen aus ihrer Nachbarschaft tatenlos hinzunehmen.“

Der Sprecher der Berliner Zivilgerichte, Ulrich Wimmer, sagt dagegen: „Das Landgericht hat eine Revision im Berufungsurteil nicht zugelassen.“ Gülbols Anwalt hatte beim BGH Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt, verbunden mit dem Antrag, die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsurteil einstweilen einzustellen. Letzteres wies der BGH bereits am 15. August 2012 zurück. Über die Nichtzulassungsbeschwerde soll kommende Woche entschieden werden. Doch dies dürfte nur eine Formfrage sein, da der BGH die Zwangsvollstreckung ausdrücklich billigte. Auch dies kann auf der Webseite des BGH nachgelesen werden.

Als die Wohnung geräumt wurde, waren 815 Polizisten im Einsatz. Es gab Aufrufe zu Blockaden und Gewalt. Dass die Polizei 52 Brandsätze fand, spricht für sich. Steine flogen, Autos wurden demoliert, Brände gelegt. Die Grünen verurteilten das Vorgehen der Polizei als stark überzogen und völlig übertrieben.

Hätte der Rechtsstaat die Räumung nicht durchsetzen sollen? Klaus Lederer von der Linkspartei ruft zu zivilem Ungehorsam bei künftigen Räumungen auf. Oliver Höfinghoff von den Piraten findet, dass Blockaden gegen Räumungen das einzig verfügbare demokratische Mittel seien. So ehrenwert das Eintreten für bezahlbare Wohnungen ist – beide Volksvertreter sind nicht legitimiert, sich an die Stelle des Gerichts zu setzen und eine Urteilsvollstreckung zu verhindern. Ein Einknicken des Rechtsstaates vor Blockierern hätte Chaos zur Folge.

Das Gesetz gilt für alle
Ali Gülbol trifft derweil in der Öffentlichkeit auf Verständnis. Gern wird darauf verwiesen, dass er schon seit 1996 in der Wohnung lebte. Und dass er ein Musterbeispiel für gelungene Integration sei. Aber was sind das für Argumente? Heißt das im Umkehrschluss: Wer nur kurz in einer Wohnung lebt, darf schneller rausgesetzt werden? Heißt das: Wer weniger gut integriert ist, hat weniger Rechte?

Auch Vermieter haben Rechte, das Gesetz gilt für alle. Ali Gülbol scheiterte zwei Mal vor Gericht und zahlte trotzdem nicht. Solche Streitigkeiten gibt es tausendfach – auch in Marzahn oder Spandau, nur dass dort niemand von „Gentrifizierung“ spricht, wie Verdrängung Armer genannt wird. Für diese Debatte sind alle möglichen Fälle geeignet. Der Fall Gülbol aber nicht.

Andreas Kopietz

veröffentlicht von: www.berliner-zeitung.de